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New Nordic Cuisine: Was wir heute noch vom hohen Norden lernen können

Vor gut zwanzig Jahren schuf eine Gruppe skandinavischer Köche ein Manifest, das die internationale Gastronomie gründlich durcheinanderwirbelte. Die New Nordic Cuisine machte Fermentation salonfähig, verwandelte „Unkraut“ in High-End-Zutaten und prägte eine Ästhetik, die heute selbst in Mitteleuropa kaum mehr wegzudenken ist. Wir zeigen, was Gastronomen und Hoteliers im DACH-Raum aus dieser Entwicklung mitnehmen können – und wie man nordische Prinzipien klug auf die eigene Region überträgt.

1. Einleitung: Der Knall im Norden

Stellen Sie sich ein Fine-Dining-Restaurant Ende der 1990er vor: weiße Tischdecken, französische Soßen, internationale Warenkörbe. Skandinavien? Wenn überhaupt, maximal eine Randnotiz. Genau das änderte sich schlagartig im November 2004. Damals formierten Claus Meyer, René Redzepi und weitere Spitzenköche den Kreis, der das „New Nordic Food Manifesto“ unterzeichnete – ein Dokument mit zehn Prinzipien, das so unscheinbar wirkt, aber die globale Gastronomie nachhaltig aufmischte.

Der Anspruch war radikal: eine Küche zu schaffen, die Ort, Jahreszeit und Reinheit der Produkte spürbar macht. Keine importierten Zitronen, kein Pfeffer aus Fernost, keine Haute Cuisine-Duplikate – stattdessen eine neue kulinarische Sprache. Die Szene sprach von einem Befreiungsschlag, und spätestens als das Noma fünfmal zum „Besten Restaurant der Welt“ gewählt wurde, war klar: Der Norden hat eine Revolution ausgelöst, die bis heute anhält.

2. Die Philosophie: Zeit und Ort auf dem Teller

Wer heute von „New Nordic“ spricht, meint weit mehr als die Verwendung bestimmter Zutaten. Im Kern steht die Idee, dass Essen eine Geschichte erzählt – über Landschaften, Produzenten und die Qualität der Rohwaren. Das Manifest setzt dabei auf vier grundlegende Prinzipien: Reinheit, Frische, Einfachheit und Ethik.

Radikale Regionalität heißt im nordischen Kontext: Man kocht nur mit dem, was tatsächlich in Reichweite wächst oder verfügbar ist. Kein Olivenöl? Dann eben kaltgepresstes Rapsöl. Keine Zitrone? Dann sorgt Sanddorn für die nötige Säure. Tomaten außerhalb der Saison? Fehlanzeige – dafür gibt es fermentierte Gemüse- oder Fruchtessenzen.

Diese Haltung führt direkt zur Hyper-Saisonalität, also dem Kochen im Rhythmus der Mikro-Jahreszeiten. Es geht nicht nur darum, ob Spargel Saison hat, sondern ob er heute, in genau dieser Woche, den optimalen geschmacklichen Zustand erreicht. Für Gastronomen bedeutet das: Menüs können sich im Wochenrhythmus ändern, abhängig davon, was Produzenten und die Natur hergeben.

Der Anspruch, „Zeit und Ort“ abzubilden, zeigt sich oft auch in der Präsentation: Ein Teller kann wie ein Waldspaziergang wirken – mit Moosen, Kräutern, Rinden- oder Wurzelelementen. René Redzepi bringt es in einem vielzitierten O-Ton auf den Punkt: „Es geht nicht darum, französische Küche mit nordischen Zutaten zu kochen, sondern eine ganz neue Sprache zu finden, die unseren Ort und unsere Zeit ausdrückt.“

Für Betriebe im DACH-Raum ergibt sich daraus eine zentrale Frage: Was erzählt Ihre Region auf dem Teller? Und wie konsequent möchten Sie diese Geschichte künftig erzählen?

3. Techniken: Aus der Not eine Tugend machen

Die nordische Tradition ist geprägt von langen Wintern und kurzen Vegetationsperioden – perfekte Bedingungen, um Konservierungsmethoden zur Kunstform zu erheben. Was früher Überlebensstrategie war, ist heute High-End-Veredelung.

Fermentation gehört dabei zu den wichtigsten Werkzeugen. Lange war Sauerkraut bei uns das gängigste Beispiel, doch die Nordic-Szene brachte eine ganze Palette neuer Produkte hervor: Garums aus Fischresten oder Gemüse, Misos aus Erbsen oder Brot, fermentierte Säfte, die als Umami-Verstärker dienen. Damit lässt sich geschmackliche Tiefe erzeugen, ganz ohne klassische Zutaten wie Parmesan oder Sojasauce – ein echter Vorteil für alle, die regionale Puristik ernst nehmen wollen.

Auch Pickling – das Einlegen in Essig oder fermentierter Säure – erlebt seit dem Manifest einen Höhenflug. Unreife Früchte, Wurzelgemüse, Wildkräuter: Fast alles lässt sich einlegen und sorgt für klare, präzise Säurekomponenten im Gericht. Es ist gleichzeitig eine hervorragende Technik zur Reduktion von Food-Waste.

Ein weiterer Eckpfeiler ist Foraging, also das Sammeln in der Natur. Wilde Kräuter, Moose, Flechten wie die Rentierflechte, Pilze, Beeren – vieles, was früher achtlos übersehen wurde, gilt heute als Aromenschatz. Die Szene entdeckte, dass regionale Wildpflanzen oft intensiver schmecken und Gerichten eine Einzigartigkeit verleihen, die kein globaler Warenkorb bieten kann.

Für die Praxis im DACH-Raum heißt das: Die Techniken sind universell einsetzbar – der Schlüssel liegt in der Auswahl regional verfügbarer Produkte. Ein Gastronom bringt es treffend auf den Punkt: „Früher dachten wir, Luxus sei Hummer und Kaviar. Heute wissen wir: Luxus ist eine perfekt gereifte Karotte vom Bauern nebenan, die man so im Supermarkt nicht kaufen kann.“

4. Ästhetik: Die Natur als Designer

Wer einmal in ein nordisch geprägtes Fine-Dining-Restaurant eingetreten ist, erkennt die Ästhetik sofort. Die Abkehr vom klassischen weißen Porzellan hin zu handgetöpferter Keramik, Holzschalen oder Steintellern vermittelt eine haptische und visuelle Bodenständigkeit. Es geht nicht mehr nur um Geschmack, sondern um das Gefühl, in der Natur zu essen.

Auch das Interieur setzt auf reduziertes nordisches Design: helles Holz, viel Licht, offene Küchen, eine entspannte, fast wohnliche Atmosphäre. Das Serviceverständnis ist freundlich, aber nicht steif – ein Ansatz, der laut dem Nasjonalmuseet in Norwegen mittlerweile als kulturelles Designphänomen gilt (Ausstellung „New Nordic. Cuisine, Aesthetics and Place“).

Beim Anrichten dominieren organische Formen. Ein Gericht wirkt oft so, als sei es gerade erst im Wald oder am Feldrand entstanden. Wurzeln, Blätter und Kräuter dienen nicht nur als Dekoration, sondern als integraler Bestandteil des Geschmacks.

Für Gastronomen ist dieser Stil vor allem deshalb interessant, weil er mit relativ wenigen Komponenten auskommt – Minimalismus bedeutet hier Präzision, nicht Verzicht.

5. Einfluss auf DACH: Von Kopenhagen nach Berlin & Wien

Die Welle, die in Kopenhagen begann, erreichte die DACH-Region erstaunlich schnell. Besonders deutlich zeigt sich das in Städten wie Berlin oder Wien, wo Restaurants wie das Nobelhart & Schmutzig oder das Horváth längst etabliert haben, was heute als „Brutal Lokal“ bekannt ist: eine kompromisslose Konzentration auf heimische Produkte.

Statt nordischer Zutaten wie Rentier oder Moltebeeren nutzt man hier Rüben, Kohl, Süßwasserfisch, Pilze und alte Sorten, die regionale Produzenten neu kultivieren. Die Restaurants kopieren also nicht die nordische Küche, sondern die Denkweise dahinter. Auch das Steirereck in Wien gilt als Beispiel dafür, wie traditionelle Alpenregion-Produkte auf ein modernes Geschmacksniveau gehoben werden können – ohne die eigene Identität zu verlieren.

Laut Berichten wie denen von Insight Vacations oder Forbes (Beispielartikel; Forbes-Analyse zur New-Nordic-Ausstellung) strahlt der Erfolg des skandinavischen Ansatzes längst über die Restaurantküchen hinaus und beeinflusst Tourismus, Design und Konsumverhalten.

Für Gastronomen im DACH-Raum bietet diese Entwicklung eine Blaupause: Was die nordische Küche für Skandinavien erreicht hat, kann jede Region tun – vorausgesetzt, man nimmt die eigenen Rohwaren ähnlich ernst.

6. Praxis-Tipps: Inspiration statt Kopie

Die wichtigste Regel vorweg: New Nordic ist kein Rezeptbaukasten. Es ist ein Mindset. Wer versucht, Moos in Bayern zu servieren oder Rentierflechte im Schwarzwald zu suchen, landet schnell in der Authentizitäts-Falle.

Sinnvoll ist dagegen:

• Eigene Region definieren: Was wächst hier wild? Welche Bauern bauen alte Sorten an?

• Zusammenarbeit vertiefen: Regelmäßiger Austausch mit Landwirten oder Sammel-Experten führt zu stabilen Beziehungen und besseren Produkten.

• Fermentation ausprobieren: Kleine Versuchsreihen reichen oft aus, um spannende Komponenten fürs Menü zu entwickeln.

• Storytelling pflegen: Gäste wollen wissen, warum ein Gemüse anders schmeckt – Herkunft und Verarbeitung sind Teil der Erfahrung.

Ein Kritiker beschreibt die Essenz so: „Die New Nordic Cuisine hat uns gelehrt, dass Einschränkung – also der Verzicht auf globale Warenkörbe – die Kreativität erst richtig beflügelt.“

Fazit / Ausblick

Die New Nordic Cuisine hat nicht nur Zutaten erneuert, sondern ein neues gastronomisches Selbstverständnis geprägt: radikal lokal, technisch präzise, ästhetisch reduziert und ökologisch durchdacht. Für Gastronomen und Hoteliers bedeutet das eine große Chance, die eigene regionale Identität zu schärfen – ohne dabei nordische Kulinarik zu kopieren.

In den kommenden Jahren dürfte die Bedeutung lokaler Produzenten weiter steigen, ebenso wie der Einsatz von Fermentation und wilden Zutaten. Wer heute beginnt, seine Region konsequenter einzubinden, ist morgen schon einen Schritt voraus. Und vielleicht steht dann irgendwann ein Gast in Ihrem Restaurant und sagt: „Das schmeckt nach hier – und nach jetzt.“

Kurz-Check für Ihren Betrieb

• Nutzen Sie regionale Säureträger statt Zitrusfrüchten?

• Haben Sie ein bis zwei fermentierte Komponenten im Menü?

• Arbeiten Sie mit mindestens einem Produzenten direkt zusammen?

• Gibt es ein saisonales Element, das Sie stärker ins Storytelling einbinden könnten?

So wird aus nordischer Inspiration ein echtes Alleinstellungsmerkmal in Ihrer eigenen Küche.

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