Montag, 29. Dezember 2025 GastroNews – Magazin für Profis
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Die Tip-Falle: Warum das „Trinkgeld-Ende“ in den USA scheiterte – und was wir daraus lernen

Kartenterminals, die 10, 15 oder 20 Prozent Trinkgeld vorschlagen – selbst beim Coffee-to-go: Was in Nordamerika längst Alltag ist, schwappt jetzt in die DACH-Region. Doch während die USA im Trinkgeldsystem feststecken, zeigen gescheiterte Reformversuche, wie riskant dieser Weg ist. Was können Gastronomie und Hotellerie hierzulande daraus lernen?

1. Die „Tipflation“ erreicht Europa

Stellen Sie sich vor, ein Gast möchte im Café einfach nur schnell ein Croissant bezahlen – und plötzlich poppen auf dem Terminal drei große Buttons auf: 15, 20 oder 25 Prozent Trinkgeld. Daneben ein unscheinbarer „Andere Option“-Knopf, den man fast suchen muss. Willkommen in der neuen „Tipflation“.

Was in deutschen Restaurants lange undenkbar schien, hält in immer mehr Betrieben Einzug. Moderne Zahlungssysteme präsentieren prozentuale Automatiktips – manchmal auch dort, wo kaum Service stattgefunden hat, etwa im Selbstbedienungsbereich. Laut einem aktuellen Bericht von Food Service („Wandel beim Trinkgeld: Das ‘Stimmt so’ stirbt aus“) fühlen sich viele Gäste dabei leicht manipuliert.

Der Fachbegriff dafür: Nudging. Ein sanfter „Anstups“, der aber schnell nach Zwang aussieht, wenn die Auswahlmöglichkeiten das Gästegefühl beeinflussen. Und diese Mechanik hat eine klare Herkunft: die USA. Doch dort steckt das System mittlerweile tief in der Krise. „Tip Fatigue“, Trinkgeldmüdigkeit, zieht sich durch soziale Medien, Talkshows und Branchenberichte. Bevor wir also selbst zu stark auf Nudging setzen, lohnt sich ein Blick über den Atlantik.

2. Der Status quo in den USA

Die amerikanische Gastronomie funktioniert nach völlig anderen Regeln als im deutschsprachigen Raum. Das beginnt beim Lohn: Der föderale „Tipped Minimum Wage“ liegt seit 1991 unverändert bei 2,13 US-Dollar pro Stunde. Der Rest des Einkommens muss durch Trinkgeld hereinkommen – und das ist rechtlich einkalkuliert.

Das Ergebnis: Eine unausgesprochene Erwartungshaltung, die sich in den letzten Jahren deutlich gesteigert hat. Wo früher 15 Prozent üblich waren, gelten heute 20 bis 25 Prozent als Standard. In vielen Großstädten lässt der Blick auf die Rechnung die Gäste daher längst instinktiv nach dem Taschenrechner greifen.

Für die Betriebe hat dieses System gravierende Nebenwirkungen. Die Schere zwischen Front of House (Service) und Back of House (Küche) wird immer größer. Servicekräfte können an guten Abenden ein Vielfaches dessen verdienen, was Köchinnen und Köche bekommen – die oft noch nicht einmal am Tip-Pool beteiligt werden dürfen. Fachportale wie die Tagesschau berichten ausführlich über diese Dysbalance und deren gesellschaftliche Folgen.

Kurz gesagt: Das US-Trinkgeldsystem ist nicht nur eine Frage der Höflichkeit, sondern eine tragende Säule der Lohnstruktur – mit allen Risiken, die daran hängen.

3. Das gescheiterte Experiment von Danny Meyer

Wenig Gastronominnen und Gastronomen genießen in den USA so viel Respekt wie Danny Meyer. Mit der Union Square Hospitality Group und Konzepten wie Shake Shack setzte er Maßstäbe. 2015 wagte er dann den großen Schritt: „Hospitality Included“.

Die Idee war radikal – und gleichzeitig logisch. Statt Trinkgeld sollte es faire Festlöhne für alle geben, die Menüpreise wurden um 20 bis 25 Prozent erhöht. Ziel war eine gerechtere Verteilung der Einkommen und ein professionelleres, planbares Arbeiten im gesamten Betrieb.

Meyer erklärte damals, er wolle die Branche „aus einem unausgewogenen System befreien“. Küchenpersonal sollte endlich angemessen verdienen können, ohne auf den guten Willen der Gäste angewiesen zu sein. Gleichzeitig wollte er Servicekräfte von der ständigen Schwankung ihrer Einkünfte entlasten.

Doch dann kam 2020 – und die Pandemie. Der gesamte Versuch wurde zurückgerollt. Meyer selbst sagte später: „Wir konnten in einem System, in dem alle anderen Trinkgeld geben, unsere Mitarbeiter nicht schnell genug besser bezahlen. Wir haben den Kampf gegen die Marktrealität verloren.“

Was war passiert? Und warum hat sich eines der ambitioniertesten Vergütungsmodelle der US-Gastronomie nicht halten können?

4. Warum „No Tipping“ nicht funktionierte

Der Rückschlag für Meyer liefert wertvolle Einblicke in die Psychologie der Gäste – und die Dynamik des Arbeitsmarkts.

Erstens: Die Gäste empfanden die höheren Menüpreise als zu teuer. Ein Hähnchengericht, das vorher 24 Dollar plus Tip kostete, stand plötzlich für 30 Dollar auf der Karte. Obwohl die Gesamtsumme identisch blieb, wirkte der Preis unattraktiver. Der gewohnte Mechanismus – „guter Service = freiwilliges Extra“ – fehlte. Die Transparenz war zu hoch, könnte man sagen.

Zweitens: Die Servicekräfte wanderten ab. Viele Top-Leute entschieden sich für klassische Trinkgeldbetriebe, wo sie an guten Abenden deutlich mehr verdienen konnten. Cash in der Tasche schlägt versteuertes Festgehalt – so simpel, so wirkungsvoll.

Drittens: Niemand zog mit. Während in Europa Serviceentgelte vielerorts gesetzlich geregelt sind, hängt in den USA alles am Markt. Ein einzelner Vorreiter ist schnell im Nachteil, wenn alle anderen weiter auf Tips setzen. Der First-Mover-Effekt, sonst ein Wettbewerbsvorteil, wurde hier zum Risiko.

Die Schlussfolgerung: Solange sich das gesamte System nicht ändert, scheitern Einzelversuche fast zwangsläufig.

5. Die neue Realität: Service Charge & digitales Nudging

Nach dem gescheiterten Versuch, das Trinkgeld abzuschaffen, ist in den USA eine Gegenbewegung entstanden. Allerdings keine, die das System fairer oder einfacher macht.

Stattdessen erleben wir eine regelrechte „Tipflation“. Trinkgeld wird inzwischen auch dort erwartet, wo gar kein Tischservice stattfindet: bei Abholbestellungen, am Imbissfenster oder beim Self-Checkout. Tablets großer Anbieter wie Square oder Toast nutzen psychologische Methoden wie „Anchor Pricing“. Die Vorschläge starten bewusst hoch – 18, 20 oder 25 Prozent. Der 15-Prozent-Button fehlt oft komplett.

Ein Forscher kommentierte im Gespräch mit nordamerikanischen Medien: „Wir tendieren psychologisch zur Mitte. Wir geben mehr, als wir wollen, und fühlen uns dabei unwohl.“ Das Stichwort lautet: Guilt Tipping.

Gleichzeitig setzen viele Restaurants auf „Service Charges“, die häufig 18 bis 22 Prozent betragen – allerdings nicht zwingend beim Personal ankommen. Juristisch gelten sie oft als Betriebseinnahme. Für Gäste entsteht dadurch zusätzliche Verwirrung: Ist die Service Charge das neue Tip? Muss man trotzdem noch etwas drauflegen?

Selbst in sozialen Netzwerken häufen sich Kommentare wie: „Ich soll 20 Prozent geben, nur weil mir jemand eine Flasche Wasser reicht? Das System ist kaputt.“ Die Unzufriedenheit steigt – und mit ihr die Debatte über Manipulation beim Bezahlen.

6. Fazit & Lehren für die DACH-Region

Für Gastronomen und Hoteliers in Deutschland, Österreich und der Schweiz ergibt sich daraus eine klare Lehre: Das US-System ist keine Inspiration, sondern ein Warnsignal. Die Branche dort sucht verzweifelt nach einem Weg aus einer selbstgebauten Falle.

Digitales Nudging kann kurzfristig den Trinkgeldumsatz erhöhen – gleichzeitig aber das Vertrauen der Gäste beschädigen. Vor allem dann, wenn man sie durch prominent platzierte Buttons in eine unangenehme Richtung schubst.

Dabei ist das europäische Modell eigentlich gut aufgestellt: Service ist im Preis inkludiert, Trinkgeld bleibt ein Dankeschön für besondere Leistung. Entscheidend ist, diese Balance nicht zu verlieren. Und: Faire Löhne in der Küche sind wichtig – aber bitte nicht über Verwirrung am Terminal finanziert.

Wer jetzt auf Transparenz setzt, behutsam digitale Tools einführt und die Mechaniken aus den USA kritisch hinterfragt, sichert sich langfristig den Vertrauensvorschuss seiner Gäste.

Wenn Sie Ihre Bezahlprozesse jetzt bewusst gestalten, sind Sie Ihrer Konkurrenz einen Schritt voraus.

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