1. Der unsichtbare Boom
Stellen Sie sich vor, Sie blicken auf eine belebte Innenstadt, in der Lieferfahrer an jeder Ampel stehen – während die Tische im Café nebenan halbleer bleiben. Was früher als schlechtes Zeichen galt, ist heute oft ein Hinweis auf florierende digitale Geschäftsmodelle. Essen wird zunehmend dorthin geliefert, wo die Kundschaft gerade ist: ins Büro, an den Esstisch, an die Couch.
Die Pandemie hat diese Entwicklung massiv beschleunigt, doch der Trend hält an. Bequemlichkeit zählt – und die Nachfrage nach schnellen, gut kalkulierbaren Gerichten wächst. Was für viele Gastronomen zunächst eine Notlösung war, ist inzwischen ein ernstzunehmender Teil ihres Geschäftsmodells geworden.
2. Dark, Cloud & Ghost – was steckt dahinter?
Der Begriff „Ghost Kitchen“ klingt geheimnisvoll, beschreibt aber ein ziemlich pragmatisches Konzept: eine professionelle Küche ohne Gastraum. Kein schöner Boden, keine Pflanzen, keine Serviettenfaltung – stattdessen Edelstahl, Produktionslinien und eine Wand voller Tablets. Solche Dark Kitchens liegen häufig in B-Lagen oder Industriegebieten, wo die Mieten günstig sind.
Daneben gibt es Virtual Brands: Marken, die ausschließlich auf Liefer-Apps existieren. Ein Restaurant kann aus derselben Küche heraus mehrere digitale Identitäten betreiben – etwa eine reale Pizzeria, die zusätzlich unter einem zweiten Namen Burger oder Bowls verkauft. Für die Plattformkundschaft wirkt es wie ein eigenes Restaurant, für den Betreiber wie eine clevere Auslastungsstrategie.
Eine weitere Variante sind Mietküchen-Modelle, bei denen Anbieter wie Kitchen United oder Vertical Food komplett ausgestattete Küchenräume zur temporären Nutzung bereitstellen. Wer schnell starten will, ohne langfristige Mietverträge einzugehen, findet hier ein flexibles Angebot.
Kurz gesagt:
- Die Ghost Kitchen ist der Ort.
- Die Virtual Brand ist das Produkt bzw. der Markenauftritt nach außen.
- Beide können zusammen auftreten – müssen aber nicht.
3. Die Zahlen: Ein Milliardenmarkt
Die Marktdaten sprechen eine deutliche Sprache. Prognosen gehen davon aus, dass der deutsche Markt für virtuelle Restaurants und Ghost Kitchens von rund 5,7 Milliarden Euro im Jahr 2024 auf bis zu 18 Milliarden Euro in den nächsten Jahren anwachsen wird. (Quelle: LinkedIn Market Pulse / Marktanalysen)
Dieser Boom wird von zwei Entwicklungen angetrieben:
Erstens steigt die Nutzung von Apps wie Lieferando, Wolt und Uber Eats kontinuierlich. Viele Konsumenten öffnen gar nicht mehr die Website eines Restaurants, sondern gehen direkt in die App – und wählen dort aus einer Fülle digitaler Marken.
Zweitens fließt Investorengeld in großem Stil in Food-Tech, Logistik und Standortplattformen – ein klares Signal, dass das Geschäftsmodell international als zukunftsfähig gesehen wird.
4. Vorteile: Effizienz statt Erlebnis
Ghost Kitchens bieten Gastronomen vor allem eines: Kosteneffizienz. Ohne Gastraum entfallen teure Posten wie Inneneinrichtung, Serviceteam, Tischwäsche oder hohe Mieten in Toplagen. Wer keine Laufkundschaft braucht, kann dort arbeiten, wo die Quadratmeterpreise attraktiv sind.
Ein weiterer Vorteil ist die enorme Flexibilität. Speisekarten lassen sich schnell anpassen – inzwischen betreiben viele Küchen kleine, fast schon spielerische A/B-Tests in der App. Läuft ein Gericht nicht? Weg damit. Zündet eine neue Idee? Ausbauen. Ohne neue Schilder, ohne Druckkosten, ohne großes Risiko.
Auch die Skalierbarkeit ist ein Argument: Konzepte lassen sich relativ leicht in andere Städte übertragen, wenn Prozesse und Rezepte standardisiert sind. Das macht das Modell besonders interessant für Betreiber, die über eine Expansion nachdenken, aber nicht sofort mehrere klassische Restaurants eröffnen wollen.
Der Entwicklergedanke steckt auch in vielen Aussagen von Branchenbeobachtern. Food-Trend-Forscherin Hanni Rützler beschreibt den Wandel so: Ghost Kitchens seien längst keine Notlösung mehr, sondern Teil einer Ausdifferenzierung der Alltagsgastronomie – das Restaurant bleibe ein sozialer Erlebnisort, während die Ghost Kitchen die funktionale Versorgung übernehme.
(Quelle: Nestlé Professional)
5. Die Schattenseiten: Abhängigkeit & Anonymität
Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Die Plattform-Ökonomie bringt eine enorme Abhängigkeit mit sich. Wer auf Apps wie Lieferando oder Wolt setzt, ist gleichzeitig darauf angewiesen, dort überhaupt sichtbar zu sein. Ohne eigenes Marketing innerhalb der Plattform geraten viele Marken schnell auf Seite zwei – und dort findet sie kaum jemand.
Die Provisionen sind ebenfalls ein kritischer Punkt: Bis zu 30 Prozent des Umsatzes gehen an die Lieferdienste, wenn diese auch die Auslieferung übernehmen. Das ist ein spürbarer Margenfresser – besonders bei Konzepten mit ohnehin knapp kalkulierten Gerichten.
Hinzu kommt die schwache Markenbindung. Viele Gäste sagen nicht „Ich bestell beim italienischen Restaurant XY“, sondern „Ich bestell was bei Wolt“. Das bedeutet: Die Plattform hat die Kundenbeziehung, nicht Sie. Wer langfristig erfolgreich sein will, muss daher Wege finden, innerhalb dieser Umgebungen Wiedererkennung zu schaffen – sei es über starke Bildsprache, konsequente Qualität oder eigenständige Markennamen.
Nicht zu unterschätzen sind auch die logistischen Anforderungen. Das beste Gericht taugt wenig, wenn es nach 20 Minuten Transport nicht mehr gut schmeckt. Pommes, die weich ankommen, oder Bowls, die ausgelaufen sind, können Bewertungen sofort nach unten ziehen. Und Bewertungen entscheiden über Platzierungen.
6. Strategie für Gastronomen: Das Hybrid-Modell
Für viele klassische Restaurants liegt der Schlüssel in einem Hybrid-Modell. Die Idee: Man betreibt weiterhin den Gastraum für das Erlebnis – und nutzt zugleich die Küche, um zusätzliche virtuelle Marken zu betreiben. So lassen sich Leerlaufzeiten überbrücken und die Personalkosten effizienter decken.
Beispiele dafür finden sich überall: Ein Frühstückslokal, das abends als virtuelle Chicken-Wing-Marke arbeitet. Eine Pizzeria, die am Nachmittag Bowls verkauft, obwohl die Tische leer sind. Ein mediterranes Lokal, das mit einer zweiten Marke experimentiert, um ein jüngeres Publikum zu erreichen.
Solche Modelle reduzieren das Risiko neuer Konzepte massiv. Statt hohe Investitionen in ein zweites Restaurant zu tätigen, kann man mit geringen Kosten testen, welche Marken und Gerichte funktionieren. Erst wenn sich eine virtuelle Marke am Markt etabliert, stellt sich die Frage, ob daraus ein physisches Restaurant entstehen könnte.
Auch Branchenkenner Thomas Primus (FoodNotify) sieht diese Entwicklung positiv: Ghost Kitchens ermöglichten es kleinen Gastronomen, günstig in neue Stadtteile zu expandieren, ohne gleich in ein vollwertiges Lokal investieren zu müssen. (Quelle: Targomo Blog)
Ein typisierter O-Ton aus der Praxis bringt es auf den Punkt: „Früher stand meine Küche nachmittags still. Heute produziere ich zwischen 14 und 17 Uhr Bowls für meine virtuelle Zweitmarke. Das deckt die Personalkosten.“
Fazit & Ausblick
Ghost Kitchens sind weder kurzfristiger Hype noch Allheilmittel für die Gastronomie. Sie sind ein Werkzeug – und wie jedes Werkzeug entfalten sie nur dann ihr Potenzial, wenn man weiß, wie man es richtig einsetzt. Für viele Betriebe bieten sie die Chance, flexible, digitale Geschäftsmodelle aufzubauen, die ohne hohe Fixkosten auskommen.
Die größten Herausforderungen bleiben die Abhängigkeit von Plattformen und die Frage der Rentabilität trotz hoher Provisionen. Wer jedoch seine Küche effizient nutzt, starke virtuelle Marken aufbaut und seine Logistik im Griff hat, kann sich ein zusätzliches Standbein schaffen.
In den kommenden Jahren dürfte das Modell weiter wachsen – getrieben von Technologie, Investitionen und dem anhaltenden Wunsch nach Bequemlichkeit. Wenn Sie heute anfangen, Ihre Kapazitäten clever zu analysieren, sind Sie der Konkurrenz morgen einen Schritt voraus.
Kurz-Check für Ihren Betrieb
- Haben Sie Leerlaufzeiten in der Küche, die sich durch eine virtuelle Marke füllen ließen?
- Welche Ihrer Gerichte eignen sich für 20 Minuten Transport – und welche nicht?
- Sind Sie bereit, in Plattform-Marketing und hochwertige Verpackung zu investieren?
- Haben Sie eine klare Markenstrategie, die auch innerhalb von Liefer-Apps auffällt?