1. Wenn der Gast den Stuhl kaufen will
Stellen Sie sich vor, ein Gast verabschiedet sich nicht mit der Frage nach der Rechnung, sondern mit: „Woher haben Sie eigentlich diese Lampen?“ Ein Szenario, das vielen Betrieben inzwischen bekannt vorkommt. Die Grenzen zwischen Gastronomie und Einzelhandel verschwimmen – und zwar rasant.
Während früher vor allem Supermärkte auf gastronomische Angebote setzten, um Kundinnen und Kunden länger im Haus zu halten, drehen heute Gastronomen selbst den Spieß um. Aus Restaurants werden kleine Concept Stores, aus Cafés Feinkostläden, und aus Bars Markenwelten. Der Wunsch dahinter ist durchaus nachvollziehbar: Gäste möchten ein Stück des Restaurant-Erlebnisses mitnehmen – den Geschmack, das Gefühl, die Atmosphäre. Authentizität wird damit zum verkaufbaren Gut.
Dass diese Entwicklung Potenzial hat, belegen Marktdaten: Der handelsgastronomische Umsatz in Deutschland liegt inzwischen bei über 9 Milliarden Euro jährlich, wie das EHI Retail Institute berichtet (vgl. Stores+Shops). Zwar stammt dieser Wert vor allem aus dem Handel-zu-Gastro-Segment, doch er zeigt, wie attraktiv der Hybridmarkt insgesamt ist.
2. Warum Retail? Die Vorteile für Gastronomen
Wer eigene Produkte ins Regal stellt – ob im Lokal oder online –, gewinnt mehr als nur ein hübsches Zusatzgeschäft. Der Effekt auf die Markenbildung ist enorm. Ein Glas hausgemachte BBQ-Sauce im Küchenschrank des Gastes wirkt wie ein emotionaler Anker: Es erinnert an das letzte Dinner, an besondere Momente, an Qualität. Genau diese Argumentation betont auch ein Beitrag der Milchunion Frischdienst zum Thema Produktherstellung in der Gastronomie.
Zudem eröffnet Retail neue Umsatzwege, ohne dass ein Tisch länger belegt werden müsste. Cross-Selling funktioniert am Regal genauso gut wie auf der Speisekarte: Wer gerade gegessen hat, greift eher zum Mitnahmeprodukt. Gleichzeitig entsteht ein klarer USP. Eine Spezialmarmelade, ein markentypischer Kaffee oder die eigene Gewürzmischung hebt das Lokal von der Konkurrenz ab – und schafft eine direkte Verbindung zwischen Geschmack und Marke.
Auch das Thema Nachhaltigkeit spielt eine Rolle. Viele Betriebe nutzen überschüssige Zutaten, um neue Produkte zu entwickeln: aus Sommerfrüchten wird Chutney, aus Kaffeespezialitäten wird eine eigene Röstung. Lokale Lieferanten lassen sich so ebenfalls stärker einbinden, was bei Gästen gut ankommt und den ökologischen Fußabdruck positiv beeinflusst.
Kurz gesagt: Retail macht unabhängiger von der Tagesauslastung, stabilisiert Umsätze und stärkt die Marke – gleich drei Argumente, die gerade in unsicheren Zeiten Gewicht haben.
3. Best Practices: Erfolgreiche „Doppelverdiener“
Viele Betriebe im deutschsprachigen Raum zeigen bereits, wie Gastro-Retail smart funktioniert.
Ein Beispiel für den Start im Kleinen ist mozzer’s aus Hamburg. Dort begann alles mit Backmischungen im Glas – zunächst direkt im Bistro, später in einem wachsenden Online-Shop. Der behutsame Einstieg führte zu einem Sortiment, das heute ein zentraler Bestandteil des Geschäftsmodells ist. Eine klassische Entwicklung vom Tresen ins Netz.
Ein anderes Konzept zeigt, wie wichtig Nischenkompetenz sein kann: Soulfood LowCarberia aus Nürnberg. Hier entstand zuerst ein Online-Versandhandel für Low-Carb-Produkte, bevor das zugehörige Café eröffnete. Die Rollenverteilung ist ungewöhnlich – erst Shop, dann Gastro –, verdeutlicht aber, wie stark sich Expertise in einem Spezialsegment vermarkten lässt.
Wieder andere wählen den Lifestyle-Ansatz. Das Wiener Door No. 8 startete mit dem simplen Phänomen, dass Gäste ständig nach Einrichtung, Gläsern oder dem markanten Besteck fragten. Heute können Kundinnen und Kunden vieles davon direkt kaufen. Die sinngemäße Rückmeldung eines Gastronomen dazu: „Es fing damit an, dass Gäste fragten, woher wir unsere Lampen oder Steakmesser haben. Da haben wir erkannt: Wir können mehr verkaufen als nur Essen.“
Das Hamburger Schönes Leben kombiniert Restaurant und Shop für Möbel und Wohnaccessoires besonders konsequent: Essen und Stöbern verschmelzen hier zu einem ganzheitlichen Erlebnis.
Und natürlich gibt es die großen Vorbilder wie Alfons Schuhbeck, der mit Gewürzen, Tee und Müsli eines der bekanntesten Gastro-Retail-Imperien aufgebaut hat – ein Extrembeispiel dafür, wie Personal Branding im Einzelhandel funktionieren kann.
Diese Beispiele zeigen: Erfolgreich ist, wer seine Stärken erkennt und konsequent in ein Produkt übersetzt – sei es Food, Design oder Lifestyle.
4. Hürdenlauf: Rechtliches & Organisatorisches
So inspirierend die Beispiele klingen: Wenn Gastronomie Retail wird, beginnt ein neues Kapitel der Verantwortung. Denn verpackte Ware ist rechtlich ein ganz anderes Produkt als ein Gericht auf dem Teller.
Die Lebensmittelinformationsverordnung (LMIV) schreibt klare Pflichtangaben vor. Dazu gehören:
- vollständiges Zutatenverzeichnis
- Hervorhebung aller Allergene
- Nährwerttabelle
- Mindesthaltbarkeitsdatum
- Anschrift des Herstellers bzw. verantwortlichen Lebensmittelunternehmens
Ein rechtlicher Hinweis, der in der Beratungspraxis immer wieder auftaucht: „Vorsicht bei der Etikettierung: Was im Restaurant auf Nachfrage erklärt werden kann, muss auf dem verpackten Produkt schwarz auf weiß stehen.“ Die LMIV ist da kompromisslos.
Für haltbare Produkte braucht es oft Laborwerte, etwa um ein verlässliches MHD festlegen zu können. Wer Chutneys oder Saucen produziert, sollte hier keine Abkürzungen nehmen – nicht zuletzt aus Haftungsgründen.
Auch die Verpackung selbst ist ein Thema. Sie muss lebensmittelecht sein, gut verschließen und im Idealfall zum eigenen Nachhaltigkeitsanspruch passen. Glas wirkt hochwertig, ist aber schwer; Kunststoff ist leichter, aber im Image sensibler. Beide Varianten haben ihre Berechtigung – entscheidend ist der Markenfit.
Nicht zuletzt sollte geprüft werden, ob der bestehende Gaststättenbetrieb auch den Einzelhandel abdeckt. Je nach Gemeinde und Sortiment kann eine Erweiterung des Gewerbescheins notwendig sein. Hinweise dazu finden sich unter anderem in Leitfäden zur Gewerbeanmeldung, wie sie etwa auf unternehmenswelt.de erklärt werden. Dieser Artikel ersetzt selbstverständlich keine Rechtsberatung – im Zweifel gehört eine fachkundige Prüfung immer dazu.
5. Vom Restaurant zur Marke: Marketing-Tipps
Was verkauft sich im Regal wirklich? Vor allem Produkte mit Persönlichkeit. Erfolgreiche Konzepte erzählen eine Geschichte – sei es das alte Familienrezept, die spezielle Herkunft einer Zutat oder die Philosophie hinter der Küche. Storytelling schafft Vertrauen und Wiedererkennung.
Ebenso wichtig: das Design. Viele Gäste verzeihen viel, aber kein unprofessionelles Etikett. „Hausgemacht“ darf charmant wirken, aber niemals improvisiert. Ein klares Layout, gute Lesbarkeit und hochwertige Materialien sind Pflicht.
Auch die Platzierung entscheidet. Besonders effektiv ist ein kleines, gut sichtbares Regal im Eingangsbereich oder direkt am Tisch. Einige Betriebe lassen Gäste ihre Gewürze oder Öle beim Essen probieren – wer überzeugt, kauft eher. Online bietet ein eigener Webshop Kontrolle über Marke und Marge; Plattformen dagegen bringen Reichweite. Beide Wege können sich ergänzen.
Für saisonale Peaks – etwa Weihnachten – lohnt es sich, die Produkte gezielt als Geschenkideen zu inszenieren. Viele Gäste suchen in der Adventszeit nach authentischen Mitbringseln, und genau hier hat die Gastronomie einen Vorteil: Die Geschichte hinter dem Produkt ist bereits da.
6. Fazit & Ausblick
Der Schritt vom Teller ins Regal ist für viele Betriebe ein natürlicher nächster Schritt – und eine Chance, unabhängiger zu werden. Wer klein beginnt, sorgfältig testet und authentisch bleibt, kann ein zweites Standbein aufbauen, das Umsatz und Marke gleichermaßen stärkt. Die wichtigsten Bausteine: ein klares Produkt, saubere rechtliche Umsetzung, professionelles Design und eine überzeugende Story.
In den nächsten Jahren wird der Gastro-Retail-Hybrid weiter wachsen. Gäste wollen Erlebnisse, die über den Besuch hinausreichen – und genau hier entsteht Raum für kreative Konzepte. Wenn Sie jetzt beginnen, Ihr Sortiment zu definieren und erste Prototypen zu testen, sind Sie Ihrer Konkurrenz einen Schritt voraus.
Kurz-Check für Ihren Betrieb
- Haben Sie ein Produkt, das Gäste regelmäßig nachfragen?
- Können Sie es dauerhaft in konstanter Qualität herstellen?
- Sind LMIV und Gewerbefragen geklärt?
- Ist die Verpackung professionell und markentypisch?
- Haben Sie einen klaren Verkaufsort – im Lokal oder online?
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